Eine Reise entlang der Mother Road zwischen Legende, Wiedergeburt und Nostalgie
Es war irgendwann Mitte der 1990er Jahre, als wir zum ersten Mal aufbrachen, um sie zu finden – die sagenumwobene Route 66. Zwei Freunde, ein alter amerikanischer Straßenkreuzer und die große Sehnsucht nach jener Straße, die seit Generationen das Symbol amerikanischer Reisefreiheit ist. Von Chicago nach Santa Monica, quer durch acht Bundesstaaten, 3.940 Kilometer Asphalt, Geschichte, Staub und Geschichten. Doch damals war sie fast verschwunden. Beschilderungen fehlten, Streckenabschnitte waren zugewachsen, überbaut oder gesperrt. Bereits im ersten Bundesstaat auf der Reise, in Illinois, verfuhren wir uns mehrfach, gaben im weiteren Verlauf mehr als einmal auf und folgten lieber der „neuen“ Interstate bis zum nächsten Zufallsfund, um den Reiseplan wenigsten in etwas beizubehalten. Immer wieder stießen wir auf Überbleibsel der sagenumwobenen „Mother Road„, die uns aber her wie ein Puzzle vorkam, in dem damals viele wichtige Teile fehlten.

2016 dann, über zwanzig Jahre später, fuhren wir noch einmal los – diesmal von Flagstaff bis Lake Havasu, im Rahmen unseres Käfer Roadtrips, über den wir damals auch berichteten. Und siehe da: Die Straße schien teilweise wieder auferstanden zu sein. Neue Schilder, restaurierte Diner, liebevoll kuratierte Museen. Route 66 war zurück – nicht mehr als Hauptverkehrsader, sondern als Mythos, als Kulturgut, als romantisierte Erinnerung an ein Land, das sich einst selbst erfand, indem es fuhr.
Heute, an der Schwelle zu ihrem 100. Geburtstag, ist die Mother Road mehr denn je ein Symbol – für Freiheit, Geschichte und das unstillbare Fernweh, das Generationen von Reisenden angetrieben hat. 2026 feiert die Route 66 nun ihr Jahrhundertjubiläum – und lädt Reisende aus aller Welt ein, ihre eigene Geschichte auf dem Asphalt Amerikas zu schreiben.
Eine Straße, die Amerika verband
Als sie 1926 offiziell eröffnet wurde, war die Route 66 weit mehr als eine Straße. Sie war ein Versprechen. Eine Verbindung zwischen Ost und West, zwischen Industrie und Wüste, zwischen Hoffnung und Neuanfang. Sie verband Chicago mit Santa Monica; Illinois mit Kalifornien – und auf ihrem Weg die unzähligen Kleinstädte, die von ihrem Verkehr lebten.
„Die Route 66 ist integraler Bestandteil der amerikanischen Reisesaga“, sagt Fred Dixon, Präsident und CEO von Brand USA. „Seit fast einem Jahrhundert verbindet sie Menschen, Orte und Erfahrungen – und steht für die Möglichkeit, sich einfach treiben zu lassen.“
In einer aktuellen Studie von Brand USA, der offiziellen nationalen Marketingorganisation der Vereinigten Staaten, rangieren Roadtrips unter den drei beliebtesten Reiseerlebnissen internationaler Besucher. Kein Wunder also, dass die „Great American Road Trip“-Initiative gemeinsam mit dem US-Verkehrsministerium 250 Orte entlang mehrerer legendärer Routen hervorhebt – mit der Route 66 als Herzstück.

Der Geist der offenen Straße
Von den Hochhausschluchten Chicagos bis zu den Sonnenuntergängen am Santa Monica Pier führt die Route 66 wie bereits erwähnt durch acht Bundesstaaten – Illinois, Missouri, Kansas, Oklahoma, Texas, New Mexico, Arizona und Kalifornien – und durch unzählige Geschichten.
„Die Route 66 ist mehr als eine Straße“, sagt Caroline Beteta, Präsidentin von Visit California und Vorsitzende der Route 66 Centennial Commission. „Sie ist ein lebendiges Symbol für den amerikanischen Entdeckergeist. Sie verbindet Generationen – über Meilen hinweg, aber auch durch die gemeinsame Erfahrung des Unterwegsseins.“
Für viele Amerikaner wurde sie zur Lebensader: Während der Großen Depression zogen Tausende auf ihr gen Westen, in der Hoffnung auf ein besseres Leben. Später wurde sie zur Ferienstraße der Nachkriegszeit, gesäumt von Motels, Drive-ins, Tankstellen und Leuchtreklamen. Und dann – kam das Vergessen. Neue Highways, schnellere Routen, der Zahn der Zeit. Doch die Nostalgie hat gesiegt. Heute ist die Route 66 wieder ein Erlebnis – teils kommerzialisiert, sicher, aber auch voller Herzblut und Authentizität.

Zwischen Diner, Museum und Neonlicht
Wer sich heute auf die 3.940 Kilometer lange Strecke begibt, findet eine Mischung aus Geschichte, Humor und Kitsch – eine Zeitreise durch das 20. Jahrhundert.
In Pontiac, Illinois, erzählt das Route 66 Hall of Fame and Museum von den Anfängen der Straße. Draußen, an einer Hauswand, prangt das größte Route-66-Wandbild der Welt – ein perfektes Fotomotiv. Nur wenige Kilometer weiter erhebt sich in Collinsville die „World’s Largest Catsup Bottle“, ein 52 Meter hoher Wasserturm aus den 1940ern.
Henry’s Rabbit Ranch in Staunton ist eine Hommage an die „Rabbits“ – sowohl an VW-Klassiker als auch an echte Hasen. Und wer sich fragt, woher die „Pink Elephant Antique Mall“ ihren Namen hat, dem wird das spätestens klar, wenn er vor dem haushohen rosafarbenen Elefanten steht.
Litchfield, Illinois, lockt mit seinem Route 66 Welcome Center, wo Neonlicht und Nostalgie aufeinandertreffen. Von dort aus führt der Weg weiter nach Missouri – das Herzstück der „Mother Road“.
In Cuba steht der größte Schaukelstuhl der Welt, in Springfield die zweitgrößte Gabel – Americana in Reinform. In St. Louis thront der Gateway Arch, das Tor zum Westen. Und im dortigen Neon Museum leuchtet die Geschichte des amerikanischen Werbedesigns in allen Farben.

Kleine Orte, große Geschichten
Kansas ist mit nur 13 Meilen der kürzeste Abschnitt, aber voller Charme: die Rainbow Bridge, das Baxter Springs Heritage Center und das Galena Mining Museum erzählen von Pionieren, Goldgräbern und Mechanikern, die einst den Traum vom Westen lebten.
In Oklahoma wartet das Route 66 Museum in Clinton mit historischen Exponaten aus der Dust-Bowl-Zeit. Hier erfährt man, wie Menschen in den 1930ern mit Sack und Pack die Straße als Weg aus der Armut nutzten.
Nicht weit davon entfernt erstrahlt der berühmte Blue Whale of Catoosa in neuem Glanz – pünktlich zum 100-jährigen Jubiläum wird er renoviert. In Luther erinnert die Threatt Filling Station an ein Stück afroamerikanischer Geschichte: Sie war einst eine der wenigen sicheren Tankstellen für Schwarze Reisende während der Zeit der Rassentrennung.

Wüsten, Kunst und Mythen
In Texas recken sich bei Amarillo bunte Cadillacs in den Himmel – das berühmte Cadillac Ranch-Kunstprojekt ist längst ein Wallfahrtsort für Roadtrip-Fans.
Weiter westlich, in Santa Rosa (New Mexico), glitzern Oldtimer im Route 66 Auto Museum, bevor die Reise nach Albuquerque führt. Dort entsteht mit dem neuen West Central Route 66 Visitor Center ein modernes Kulturzentrum mit Neonkunst, Open-Air-Kino und dem Projekt Route 66 Remixed – eine interaktive Kunstinstallation mit Augmented-Reality-Elementen, entwickelt in Zusammenarbeit mit Meow Wolf und lokalen Künstlern.
Hakim Bellamy, Albuquerques erster Poet Laureate, führt als Erzähler durch diese digitale „Kunststraße“, die Vergangenheit und Zukunft miteinander verbindet – ganz im Sinne der Mother Road.
In Arizona wird Geschichte zur Geologie: Der Petrified Forest National Park ist der einzige Nationalpark der USA, durch den ein Stück der alten Route 66 verläuft. In Joseph City steht der legendäre Jack Rabbit Trading Post mit seinem überlebensgroßen Hasen – ein Relikt aus der goldenen Ära der Reklame.
„Take It Easy“, sangen die Eagles – und machten Winslow, Arizona, unsterblich. In Kingman widmen sich gleich zwei Museen der Route: das Arizona Route 66 Museum und das Route 66 Electric Vehicle Museum, das zeigt, wie die Legende in die Zukunft fährt.

Das Ende der Straße
Bevor sich der Asphalt der Mother Road endgültig im Wüstensand verliert, liegen noch einige letzte Wunder am Weg: das skurrile Elmer’s Bottle Tree Ranch im Mojave Desert – ein Wald aus bunten Glasflaschen – und das Original McDonald’s Museum in San Bernardino, wo einst die erste Filiale des Fast-Food-Riesen stand.
Dann, endlich: der Santa Monica Pier. Dort, wo der Pazifik den Himmel berührt, steht das berühmte Schild: End of the Trail. Der Wind riecht nach Salz, das Licht nach Aufbruch. Wer hier ankommt, hat Amerika nicht nur durchquert – sondern verstanden.

Die neue alte Route 66
Heute ist die Route 66 ein riesiges Freilichtmuseum, eine lebendige Geschichtsstunde und ein globales Kultobjekt zugleich. Es gibt Retro-Motels mit blinkenden Neonlichtern, Craft-Burger statt Diner-Kaffee, E-Ladestationen neben rostigen Zapfsäulen. Manche Orte wirken überinszeniert, andere authentisch und berührend. Doch überall spürt man, was diese Straße ausmacht: das Gefühl, unterwegs zu sein – und sich selbst zu finden.
Mit dem 100-jährigen Jubiläum 2026 soll die „Great American Road Trip“-Initiative die Route 66 in neuem Glanz erstrahlen lassen. Neue Besucherzentren, Kunstinstallationen, Restaurierungen und lokale Feste sollen das Erbe der Straße feiern – und gleichzeitig den Tourismus nachhaltig gestalten.
Denn Route 66 ist mehr als Nostalgie. Sie ist ein Symbol für Wandel. Für ein Amerika, das in Bewegung bleibt.
Fazit: Der Mythos lebt
Ob man sie nun komplett fährt oder nur in Etappen – die Route 66 bleibt ein Erlebnis. Sie ist Filmkulisse, Geschichtsbuch, Postkarte und Freiheitsversprechen zugleich.
Vielleicht ist das ihre wahre Magie: dass sie sich ständig wandelt und doch immer dieselbe bleibt. Eine Straße, die nicht nur verbindet, sondern verwandelt. Und wer heute aufbricht, die Mother Road zu befahren, der wird – so wie auch wir damals – feststellen, dass man sie nicht einfach findet. Man erlebt sie.

INFOS: 100 Jahre Route 66
Geburtsstunde:
11. November 1926 – die Route 66 wird offiziell als Teil des US-Highway-Systems eröffnet.
Verlauf:
Von Chicago (Illinois) bis Santa Monica (Kalifornien) – rund 3.940 Kilometer durch acht Bundesstaaten:
Illinois – Missouri – Kansas – Oklahoma – Texas – New Mexico – Arizona – Kalifornien
Beiname:
The Mother Road – erstmals verwendet von John Steinbeck in Früchte des Zorns (1939).
Bedeutung:
Die Route 66 verband die Ostküste mit dem Westen der USA und wurde in der Weltwirtschaftskrise zum Symbol für Hoffnung und Aufbruch. Nach ihrer Stilllegung 1985 feierte sie als Kulturdenkmal und Roadtrip-Legende ein Comeback.
Heute:
Rund 85 % der ursprünglichen Strecke sind wieder befahrbar. Zahlreiche Orte, Museen und Initiativen arbeiten an der Bewahrung dieses einzigartigen Kulturerbes – pünktlich zum 100-jährigen Jubiläum 2026.
Tipp für Reisende:
Die Route 66 lässt sich bequem in Teilabschnitten bereisen – etwa zwischen Albuquerque (NM) und Flagstaff (AZ) oder auf den nostalgischen Meilen durch Missouri und Illinois.
Mehr Informationen unter:
www.VisitTheUSA.com | americathebeautiful.com




